Samstag, 1. Juni 2013

Umarmung der Welt auf die alte Art

Die Hauptausstellung der 55. Kunstbiennale von Venedig, die an diesem Wochenende eröffnet wird, versteht sich als Enzyklopädie, als Wunderkammer, als temporäres Weltmuseum – und setzt dabei weitgehend auf die Kunst als Objekt.
Die einzige wahrhaft enzyklopädische Geste ist im Grunde die des Papstes. Wenn der Vater aller Väter an das grosse Fenster über dem Markusplatz tritt, an sein Fenster zur Welt, vom hellen Tageslicht leicht geblendet die Augen ein wenig zusammendrückt und mit einem kleinen Lächeln weit die Arme ausbreitet, dann stellt er eine Art Trichter für alles Wissen und alle Werte, das Schwierige und das Schöne, alle Erkenntnisse und Erfindungen des Universums dar. Kein Wunder, schwankt er im ersten Moment ein wenig zurück, wenn all dies mit voller Wucht bei ihm einschlägt. Die Geste der ausgebreiteten Arme selbst macht aus dem Papst ein aufgeschlagenes Buch, eine Enzyklopädie des Weltbestandes.
Die 55. Biennale von Venedig, die an diesem Wochenende feierlich eröffnet wird, baut sich als ein «Palazzo Enciclopedico» vor dem Besucher auf – Grund genug, die päpstliche Geste auch selbst einmal auszuprobieren. Stellen wir uns also an das weit geöffnete Fenster unseres Hotels und breiten die Arme aus. Da wir, wie die meisten Enzyklopädien der letzten zweihundert Jahre, alphabetisch organisiert sind, trifft als erstes Lemma Auriti, Marino bei uns ein. Dieser italoamerikanische Künstler liess am 16. November 1955 seine Idee eines «Encyclopedic Palace» patentieren. Er wollte alles Wissen und alle Erfindungen dieser Welt («vom Rad bis zum Satelliten») in einem 136 Stockwerke hohen Wolkenkratzer zusammenbringen. So eifrig Auriti sein Ziel verfolgte – zur Realisierung kam es nicht. Das Modell aus seiner Garage in Pennsylvania aber bildet nun den Auftakt der Hauptausstellung im Arsenale – und Auritis Wunsch nach einer grossen Weltumarmung liefert dem ebenfalls italoamerikanischen Kurator Massimiliano Gioni einen US-patentierten Vorwand für das Thema seiner Biennale.


Eine Kunstausstellung als Enzyklopädie – da ist eine gewisse Beliebigkeit vorauszusehen. Allerdings hätte Gioni das Lasso ja auch beliebig anziehen können. Doch das hat er nicht getan – im Gegenteil: Zwischen Arbeiten, die man in diesem Kontext durchaus versteht, tauchen immer wieder Beiträge auf, bei denen man beide Augen fest zudrücken muss, um den Bezug zum Thema noch zu sehen. Paweł Althamer zum Beispiel hat im Arsenale einen riesigen Saal mit seinen «Venetians» bevölkert. Lebensgrosse Plastiken, die Köpfe sind Abgüsse von Gesichtern einiger Lagunen-Bewohner, die Leiber quasi in die dritte Dimension übersetzte Strichmännchen-Körper mit groben Bandagen – alles aus Stahl und Plastic, in Müllsack-Grau. Die Arbeit erinnert ein wenig an Gunther von Hagens «Körperwelten», gehört aber sicher zu den bildwirksamsten Werken der internationalen Ausstellung und ehrt überdies die Bewohner der Stadt – doch wenn wir das Biennale-Motto darin finden wollen, dann müssen wir schon Dinge formulieren wie: «Jedes Gesicht ist die Enzyklopädie eines ganzen Lebens.» Althamer selbst sagt dazu nur: «It's a major achievement to realize, that the body is only a vehicle for the soul.»


Das ist eine Formel, wie sie auch das Christentum immer wieder hervorgebracht hat. Dessen enzyklopädischer Anspruch steht ausser Frage – und also erstaunt es kaum, dass es im Rahmen dieser Biennale auf ganz unterschiedliche Weise eine Rolle spielt: Der Bogen reicht vom «Genesis»-Comic eines Robert Crumb über die Zeichnungen von erleuchteten Mitgliedern der Shaker-Kirche bis zu den fein ziselierten Ikonen des ehemaligen Minenarbeiters und visionären Autodidakten Augustin Lesage.


Überhaupt spielt Dilettantenkunst eine wichtige Rolle auf dieser Biennale. Etwa ein Drittel der 150 Künstler sind «Outsider» – manche der Gesellschaft, andere nur des Kunstbetriebs. Auch darin zeigt sich, dass Gionis Weg immer wieder die Spuren von Harald Szeemann kreuzt, dessen Grossausstellungen ja auch oft und mit nonchalanter Selbstverständlichkeit einen enzyklopädischen Anspruch hatten – nicht zuletzt auch das «Plateau der Menschheit», auf dem die Besucher seiner Biennale von 2001 zu tanzen hatten.
Im Unterschied zu Szeemann allerdings, der sich immer wieder bemühte, die unterschiedlichsten Kunstwerke in eine grosse, wenn auch nur selten ganz nachvollziehbare Erzählung zu verpacken, verzichtet Gioni darauf, irgendein narratives Zelt über seine Ausstellung zu spannen, in dessen Schatten eine Zusammengehörigkeit der Dinge und Diskurse sichtbar werden könnte.
Zu den grossen Fehlstellen im enzyklopädischen Gewebe dieser Biennale gehören auch alle negativen Aspekte des Themas. Alles Enzyklopädische erscheint hier ohne Ausnahme als etwas Positives, allenfalls etwas reizend Verschrobenes. Aber sind zum Beispiel nicht auch fast alle Diktaturen mit einem enzyklopädischen Anspruch aufgetreten? Ja ist es nicht auch so, dass im Grunde keine Enzyklopädie ohne ein bestimmtes Mass an autoritärer Gestik auskommt? Wer eine Enzyklopädie schafft, der beansprucht damit automatisch auch eine gewisse Interpretationshoheit – das gilt wahrscheinlich sogar für ganz individuelle Enzyklopädien.


Etwa solche, deren Entstehung sich einem heftigen Gebastel verdankt. Davon gibt es in Venedig viel zu sehen, ist die Bricolage auf dieser Biennale doch eindeutig die Königsdisziplin. Am einen Ende des Bastelbogens stehen die matten, im Grunde einfach nur zu gross geratenen Collagen eines Albert Oehlen – am anderen Ende die teilweise meterdicken Künstlerbücher des Japaners Shinro Ohtake, deren Entstehung sich wohl einer ähnlichen Obsession verdankt wie die zahllosen Modelle imaginierter – und dabei doch sehr gewöhnlicher – Architekturen, die ein österreichischer Versicherungsbeamter namens Peter Fritz in dem 1950er und 1960er Jahren zusammengeleimt hat. Ausgebuddelt haben diesen seltsamen Schatz die Künstler Oliver Croy und Oliver Elser.


Solchen Momenten zum Trotz kommt uns das Generalthema mit jedem Schritt durch die Ausstellung weniger scharf umrissen vor. Allerdings kann es auch sein, dass uns im Moment nur die falschen Lemmata zufliegen. Konzentrieren wir uns also, breiten wir die Arme noch etwas weiter aus, schliessen wir die Augen. Ganz tief und ruhig geht unser Atem, ein und aus, ein und aus.


Man könnte erwarten, dass das Internet ein zentrales Thema dieser Biennale darstellt – ist es doch auf seine Weise wohl im Moment überhaupt der «Palazzo Enciclopedico» schlechthin. Eine Tatsache, die ja auch Künstler auf vielfältige Weise beschäftigt. Gioni aber lässt das Internet aus, sicher bewusst, geht es ihm doch um eine materielle Kultur, wie sie etwa die Bronzeskulptur (Hans Josephsohn ist ein ganzer Saal gewidmet) oder das Künstlerbuch verkörpern, das auf dieser Biennale in allen möglichen Formen eine Rolle spielt (siehe «Bastelei»). Will Gioni uns also vermitteln, dass wir im postdigitalen Zeitalter angelangt sind? Oder nur, dass wir uns auf das Materielle besinnen sollen? Im Zusammenhang mit dem in den sechziger Jahren konzipierten (und für die Biennale in den Corderie neu konstruierten) «Movie-Drome» von Stan VanDerBeek, einer aus zahllosen Projektionen und Tonspuren zusammengesetzten Kakofonie, wird allerdings die Behauptung aufgestellt, das Projekt sei «a kind of visual prototype of the Internet». Wie konnten wir das vergessen: die böse digitale Bilderflut!


Die Gefahr einer Überreizung durch die schiere Zahl der Bilder ist beim «Roten Buch» von Jung, Carl Gustav natürlich eher gering. Das berühmte Werk, das mit seinen kostbaren Malereien und seiner eckigen Kalligrafie auf den ersten Blick an eine mittelalterliche Handschrift erinnert, stellt Auftakt und Zentrum des Ausstellungsteils im Padiglione d'Italia dar. Basis dieses eindrücklichen Werks sind Träume oder auch eher Visionen und ihre Deutung mit Mitteln der Sprache und einer akribischen Miniaturmalerei. Zweifellos war das Buch, an dem C. G. Jung sechzehn Jahre lang gearbeitet hat, von zentraler Bedeutung für die Entwicklung seiner Thesen. Ohne jede Transkription und ohne Erklärungen allerdings ist das «Red Book» hier lediglich ein Symbol für Jungs Gedankenwelt.


Leichter zugänglich ist uns da natürlich Kitsch. Den bietet Ragnar Kijartansson – allerdings auf höchstem Niveau: Im Hafen vor dem Arsenale hat er professionelle Blasmusiker im Frack auf ein umgebautes isländisches Fischerboot mit Rahsegel gesetzt, das ständig zwischen zwei Anlegestellen hin und her gondelt. Dabei bleibt jeweils ein Bläser auf dem Ponton zurück, um mit den Kollegen einen wehmütigen Abschieds-Dialog zu blasen. Zum Heulen schön.


Bei aller Verwunderung über diese Biennale, bei der die Kunst als Objekt eine so zentrale Bedeutung einnimmt, muss man ihr eines lassen: Langweile kommt nur selten auf. Der Kurator hat ein gutes Gespür für Rhythmus, die Mischung aus verschiedenen Medien ist sehr abwechslungsreich, und die ersten Säle im Arsenale sind auch inhaltlich so durchgestaltet, dass es eine Freude ist. Ausserdem hat Gioni viel Sinn für erfrischende Kombinationen. Der Mittelraum des Padiglione d'Italia etwa ist mit den Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner vollgehängt – wahrlich eine Enzyklopädie mit einem schweren Puls. Im Raum darüber aber das pure Gegenteil: «Plötzlich diese Übersicht» von Peter Fischli und David Weiss – die wunderbar leichte und lakonische Erkenntnis, dass man den Dingen letztlich unterlegen ist und trotzdem versuchen kann, sie in Ordnung zu bringen.
Das Gegenteil von Übersicht herrscht natürlich im Bauch der Mutter – der ersten Enzyklopädie, mit der wir im Leben zu schaffen haben. Und im Fall von Achilles G. Rizzoli auch der einzigen. Der Architekturzeichner lebte zeitlebens bei seiner Mama. Nach getaner Arbeit setze er sich am Abend hin, um aus der Phantasie heraus mächtige Gebäude zu zeichnen, die er als «Transfigurationen» seines Bekanntenkreises verstand. Das erste und mit Abstand grösste Blatt von 1935 heisst: «Mother Symbolically Represented / The Kathedral».
Doch wer heftig strampelt, schafft es irgendwann aus dem mütterlichen Bauchuniversum raus – vielleicht nur, um dann selbst Kinder zu machen, oder wenigstens Puppen, wie der amerikanische Morton Bartlett, eine der zahlreichen nicht ganz rezenten Neuentdeckungen dieser Biennale.
Wir müssen kurz eingenickt sein, jedenfalls sind von den Einträgen zu Okkultismus, Plastik, Quatsch, Reiz, Systematik, Turnen und Universalismus keine Spuren in uns hängengeblieben. Doch nun haben wir die Arme wieder oben, und es steht das Lemma Verkehrsmittel an. Das ist das Stichwort der Schweiz, hat Valentin Carron doch einen altehrwürdigen «Piaggio»-Töff in den Pavillon unseres Landes gestellt, zusammen mit ein paar zerquetschten Blasinstrumenten und Malereien, die an Klubtischchen aus den sechziger Jahren erinnern.


Ausserdem treffen wir hier auf eine hinreissende Schlange aus Metall, die sich wie das Geleise einer Modelleisenbahn durch sämtliche Räume des Pavillons schlingt – ihr eines Kopfende hängt frech über die Mauer, derweilen das andere den Besucher auf Augenhöhe empfängt. Man mag die Malereien und das Moped nicht so recht verstehen, und vielleicht wären sie auch gar nicht notwendig gewesen, von der Schlange aber lassen wir uns gerne umarmen.
Die Wunderkammer, die im Ausstellungsdiskurs immer wieder bemüht wird, scheint uns eher eine Formel dafür zu sein, dass hier sehr verschiedene Dinge ohne Vermittlung nebeneinander gezeigt werden. Denn Anlass zu Verwunderung gibt es hier nicht mehr als in jeder anderen Ausstellung auch – zumal einiges ja auch schon oft zu sehen war, denn überspannte Originalität kann man dieser Schau wahrlich nicht vorwerfen.
Arbeiten mit X-Rating gibt es kaum auf dieser Biennale. Einzig die eindeutig zweideutigen «Strumpf»-Skulpturen von Sarah Lucas, die in einem kleinen Seitenhof des Padiglione d'Italia golden glänzen, könnte man unter diesem Stichwort führen. Und sie würden sich ganz bestimmt auch gut machen auf dem Titelblatt einer «Enzyklopädie des schlechten Geschmacks».
Immer noch stehen wir mit weit gespreizten Armen da und spüren, wie die Welt sich in uns enzyklopädisch ordnet – nur zum Buchstaben Y will uns bloss die Behauptung erreichen, dass jeder Biennale-Besuch auch ein Yo-Yo-Test ist.
Kommen wir also zur Zusammenfassung: Diese 55. Biennale kam uns auf eine freundliche Art etwas altmodisch vor – dazu passen auch die vielen leicht esoterisch angehauchten Arbeiten. Die Schau nimmt das Thema Enzyklopädie nicht allzu ernst – im Gegenzug hat sie einen guten Rhythmus und dann und wann auch einen gewissen Witz. Insgesamt ist die Biennale, wie immer, das, was man aus ihr macht – nimmt man noch die ganzen Kunst-Luxus-Boutiquen dazu, als die sich die Länderpavillons mehrheitlich präsentieren, lohnt sich der Besuch in Venedig auf jeden Fall. Also lassen wir die Arme langsam wieder sinken und ziehen uns fröstelnd in unser Zimmer zurück – denn die Tage an der Lagune sind immer noch kühl, und wir haben vergessen, beim Buchstaben H die Heizung einzubauen.

Quelle: NZZ 1.6.13

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