Samstag, 15. Juni 2013

Abschluss des Kurses

35. Kursabend - Abschluss erst am Montag  24. Juni 2013 (17. Juni fällt aus!)
  • Treffpunkt: Kursraum 307, wie üblich 18.15h
  • Abgabe der provisorischen Prüfungsergebnisse
  • dann Programm nach Ansage  

Montag, 3. Juni 2013

Keine Heiratsstrafe bei der AHV

Die Christliche Volkspartei der Schweiz (CVP) will mit einer Volksinitiative die «Heiratsstrafe» bei den Steuern und der AHV beseitigen. Nur: Während der Ehestand bei den Steuern tatsächlich nachteilig sein kann, führt er bei der AHV zu insgesamt besseren Leistungen. 

Wer heiratet, soll vom Staat nicht bestraft werden. Dies die Forderung der CVP, die mit ihrer Volksinitiative «für Ehe und Familie» die sogenannte Heiratsstrafe für Ehepaare bei der AHV und den Steuern beseitigen will. Das Anliegen dürfte in der Bevölkerung auf einigen Zuspruch stossen, wird es doch gemeinhin als Ärgernis empfunden, wenn Ehepaare gegenüber Konkubinatspaaren finanziell schlechter fahren. Der Bundesrat empfiehlt die Initiative der CVP zur Annahme (NZZ 30. 5. 13). 

Allerdings will er sich nur auf die Steuern beschränken und die Sozialversicherungen ausklammern; dort brauche es keine Anpassungen zugunsten der Ehepaare, hält die Regierung fest. Vergleichsweise kleiner Teil Tatsächlich ist es mit der Diskriminierung der Ehepaare nicht so weit her, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Unbestritten ist, dass ein Teil der verheirateten Doppelverdiener noch immer tiefer in die Tasche greifen muss als ein gleich situiertes Konkubinatspaar. Allerdings handelt es sich mit rund 80 000 Paaren um einen vergleichsweise kleinen Teil der Zweiverdiener, die gegenüber ihrem unverheirateten Pendant benachteiligt sind. Zudem geht es einzig um die direkte Bundessteuer; in den Kantonen werden Verheiratete in aller Regel nicht stärker belastet. Auf welchem Weg der Bund die steuerliche Schlechterstellung ausräumen will, ist offen. 

Die CVP-Initiative schränkt die Handlungsmöglichkeiten insofern ein, als sie die gemeinschaftliche Veranlagung der Ehepaare fordert und die Individualbesteuerung, bei der jeder Ehegatte seine eigene Steuerrechnung einreicht, ausschliesst. Möglich wäre beispielsweise ein Splittingmodell, wie es zahlreiche Kantone kennen. Neben den Steuern nimmt das CVP-Begehren auch die Sozialversicherungen ins Visier. Die Initianten stossen sich daran, dass die Altersrente für Ehepaare plafoniert ist – auf das Anderthalbfache der maximalen AHV-Rente –, während unverheiratete Partner zwei Vollrenten erhalten. Konkret beläuft sich die Rente für Verheiratete auf maximal 3510 Franken pro Monat, während Konkubinatspaare mit bis zu 4680 Franken rechnen können. Schaut man sich die Situation der Verheirateten bei der AHV gesamthaft an, zeigt sich aber ein anderes Bild. Denn wer verheiratet ist, ist zwar bei der Rentenhöhe benachteiligt, profitiert aber gleichzeitig von einer ganzen Reihe von Absicherungen und Vorteilen, von denen die unverheirateten Paare ausgeschlossen sind: Witwen- und Witwerrente: Für Witwen sieht das geltende Recht eine grosszügige Lösung vor. So erhalten verheiratete Frauen mit Kindern (gleichgültig welchen Alters) oder über 45-jährige Frauen, die mindestens fünf Jahre verheiratet waren, beim Tod ihres Mannes eine Witwenrente. Der Höchstbetrag liegt bei 1872 Franken pro Monat. 

Bei Männern geht das Gesetz weniger weit. Sie erhalten nur dann eine Witwerrente, wenn sie unmündige Kinder haben. Darüber hinaus beziehen Witwen und Witwer auch aus der zweiten Säule des verstorbenen Partners Rentenleistungen. Konkubinatspaare können sich zwar ebenfalls begünstigen, aber nur, wenn die Pensionskasse Renten für Lebenspartner vorsieht. Zuschlag für Verwitwete: Stirbt der eine Gatte eines Rentnerehepaares, erhält der Hinterbliebene einen Zuschlag auf seine Altersrente im Umfang von 20 Prozent (bis zur Maximalrente). Befreiung von der Beitragszahlung: Ein nichterwerbstätiger Ehegatte ist von der AHV-Beitragspflicht entbunden, sofern der andere Gatte den doppelten Mindestbeitrag pro Jahr entrichtet (960 Franken). Bonus statt Strafe Die kurze Aufstellung zeigt: Der Vorwurf, dass Ehepaare bei der Altersvorsorge diskriminiert seien, trifft nicht zu, im Gegenteil. Gemäss den Berechnungen des Bundesamts für Sozialversicherungen stehen die Verheirateten bei den AHV-Leistungen besser da als die ledigen Paare. Der Plafonierung im Umfang von 2 Milliarden Franken stehen Leistungen von 2,8 Milliarden gegenüber, womit unter dem Strich 800 Millionen Franken zugunsten der Ehepaare resultieren (siehe Tabelle). Statt von «Heiratsstrafe» müsste man richtigerweise von «Heiratsbonus» sprechen. Was den AHV-Teil angeht, steht die CVP-Initiative also auf ziemlich wackligem Grund.

Quelle: NZZ 3.6.13
 
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Sonntag, 2. Juni 2013

10 Tipps gegen Perfektionismus

Perfektionisten setzen sich und ihre Umwelt unter Druck. Dabei sind Menschen, die Fehler machen, beruflich erfolgreicher. Wir zeigen zehn Tipps für Imperfektion. Tipps aus einem Wirtschaftsmagazin, die ganz allgemein für das Berufsleben gelten.

1. Behalten Sie das große Ganze im Auge.
Viele Perfektionisten verzetteln sich in vermeintlich wichtigen Details. Effekt: Das Projekt dauert länger, als es sollte, wird deshalb meist auch teurer als geplant, und die Sache wächst den Betroffenen schließlich über den Kopf. Konzentrieren Sie sich lieber vorrangig auf jene Punkte, die wirklich erfolgsentscheidend sind.
2. Analysieren Sie weniger.
Man kann Probleme durchaus überanalysieren. Auch das ist eine Form von Detailversessenheit. Oder von Aufschieberitis: Aus Angst, loslegen zu müssen und dann womöglich Fehler zu machen, wird immer weiter bedacht, geplant, diskutiert. Nichts gegen gute Planung, aber betrügen Sie sich dabei nicht selbst!
3. Seien Sie gnädig mit sich selbst.
Perfektionismus
Psychologen unterscheiden beim Perfektionismus zwei Haupttypen: Jene, die danach trachten perfekt zu sein, beziehungsweise Perfektes abzuliefern (perfektionistisches Streben) – und jene, die sich ständig sorgen, es könnte eben nicht perfekt sein (perfektionistische Besorgnis).
Entscheidend ist dabei gar nicht mal, dass sich die Betroffenen hohe individuelle Standards setzen, Werte wahren und gegenüber Fehlern streng und sensibel bleiben. Oft sind solche Menschen überdies noch gut organisiert, weshalb dies in der Wissenschaft auch "funktionaler Perfektionismus" genannt wird.
Ob der Drang zu Perfektion eine ungesunde Form erreicht hat, offenbart sich erst im Umgang mit Fehlern und Misserfolgen: Wenn ein kleiner Mangel im Geist zur Katastrophe mutiert.
Auswirkungen auf die Psyche
Perfektionisten sehen oft nur noch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, denken in Schwarz-Weiß-Kategorien und sehen sich nur noch als Versager. Im Extrem kann dies auch mit Angst- und Zwangstörungen, sexuellen Funktionsstörungen sowie Depressionen einhergehen.
Viele Psychologen sehen die Ursache für den sogenannten dysfunktionalen Perfektionismus in früher Kindheit: Weil die Eltern an ihre Kinder hohe Maßstäbe gelegt und ihnen das Gefühl gegeben haben, nur etwas Wert zu sein, wenn sie diese Ansprüche erfüllen, haben die Sprösslinge nie gelernt, mit Fehlern konstruktiv umzugehen. Folge: Auch als Erwachsene versuchen diese Menschen die fehlende Wertschätzung durch Leistung auszugleichen.
Hören Sie auf, sich selbst zu zerfleischen, wenn etwas mal nicht geklappt hat wie erhofft. Laborieren Sie nicht an dem, was Sie eh nicht können, sondern stärken Sie Ihre Stärken. Chronische Selbstzweifel ziehen runter und machen Sie mit jedem Mal unsicherer.
4. Vergleichen Sie sich nicht mit anderen.
Jeder kann etwas – und manche eben etwas mehr als andere. Talente sind nun mal ungleich verteilt. Ihre Aufgabe ist aber nicht, für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern das Beste aus Ihren eigenen Begabungen zu machen.
5. Setzen Sie realistische Erwartungen.
Kein Mensch wird von Ihnen Wunder erwarten. Es reicht, dass Sie versuchen, Ihre Sache gut zu machen. Oft genügen bereits 80 Prozent vom Optimum, um sein Ziel zu erreichen.
6. Rechnen Sie damit, Fehler zu machen.
Kein Mensch ist unfehlbar. Und das ist sogar gut so: Aus unseren Fehlern lernen wir in aller Regel mehr als aus unseren Erfolgen. Sehen Sie diese also nicht als Feind an, sondern als Chance, über sich hinauszuwachsen. Oder gar auf diesem Weg unverhofft zu einem globalen Durchbruch zu gelangen. Sie erinnern sich: Auch Post-it-Klebezettel, Penicillin oder Viagra verdanken ihre Entdeckung Fehlern, Schlampereien und Mängeln.
7. Bitten Sie um Hilfe.
Keiner kann alles alleine schaffen. Es ist sogar eher ein Zeichen von Größe, seine eigenen Schwächen zu kennen und an eben jenen Punkten um Hilfe zu bitten, um den Nachteil durch einen wahren Experten auszugleichen.
8. Lernen Sie, mit Kritik umzugehen.
Es ist ein Irrglaube, dass Perfektion vor Kritik schützt. Notorische Nörgler finden immer etwas. Und was ist schon wirklich perfekt? Davon abgesehen: Es allen recht machen zu wollen wirkt wie Nervengift – erst vernebelt es, dann lähmt es. Wer es versucht, wird sich zwangsläufig verzetteln, verliert sein Ziel aus den Augen und opfert obendrein sein Rückgrat. Wer sich jedem Widerstand beugt, besitzt weder Standfestigkeit noch Durchsetzungskraft. So jemand wird andere nie anleiten: Er wird bereits geführt – von allen!
9. Entspannen Sie sich.
Bevor der Stress überhand nimmt, schenken Sie sich regelmäßig kleine Auszeiten. Perfektionisten neigen dazu, übermäßigen Druck aufzubauen – gegenüber sich oder ihrer Umwelt. Das sorgt nicht nur für graue Haare, es macht auch unsympathisch bis einsam.
10. Machen Sie es einfach.
Der Satz stimmt in seiner doppelten Bedeutung: Legen Sie endlich los – und verkomplizieren Sie die Dinge nicht unnötig. Der Feind alles Guten ist Perfektionismus!

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SNB würde kleine Banken fallen lassen

Kommt der Steuerdeal mit den USA durch, könnte das für kleinere Banken ruinöse Bussen nach sich ziehen. Unterstützung von der Nationalbank dürften sie dann nicht erwarten.

«Die Nationalbank hat nicht die Aufgabe, Banken zu retten, wenn sie insolvent sind», sagt Thomas Jordan, Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) im Interview mit der «Schweiz am Sonntag». Genau das könnte aber passieren, wenn der letzte Woche vom Bundesrat vorgestellte Steuerdeal mit den USA in Kraft tritt.
Denn der Deal sieht Bussen vor, die kleinere Banken ruinieren könnten. Sollte es so weit kommen, wäre die Nationalbank nicht bereit, Institute zu retten, wie Jordan weiter sagt. 2008 griff die Nationalbank der UBS unter die Arme. Doch diese ist systemrelevant. Kleinere Banken, die durch den Steuerstreit mit den USA gefährdet sein könnten, erfüllen diese Bedingung nicht. «Das Mandat der Nationalbank ist klar: Wir müssen zur Systemstabilität beitragen», so Jordan zur Zeitung.

Politisch ist der Steuerdeal, für den Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf wirbt, hoch umstritten. Das Parlament wird nächste Woche in der Sommersession darüber beraten, ohne den genauen Inhalt des Gesetzes zu kennen, das finden viele Politiker inakzeptabel. Auch in der Wirtschaft lässt das Abkommen die Wogen hoch gehen: Erst gestern hat der Angestelltenverband KV Schweiz beschlossen, aus dem Gesamtarbeitsvertrag mit den Banken auszusteigen. Er fürchtet um den Schutz der Bankangestellten. 

Der Eidgenössische Datenschützer hingegen ist erstaunt ob der Kritik der Politiker an der Lösung des Bankenstreits. Für Hanspeter Thür ist zentral, dass bei der Übergabe von Mitarbeiterdaten an die USA Schweizer Recht respektiert wird, wie er gegenüber Radio SRF sagte. Dieser Punkt werde im Gesetzesvorschlag umgesetzt, erklärte er.

Die Mitarbeitenden müssten gemäss Entwurf vorgängig über Umfang und Lieferung der Daten informiert werden. Und sie erhielten die Möglichkeit, gerichtlich gegen die Datenherausgabe vorzugehen. Die Kritik von Politikerinnen und Politikern am Eilverfahren, mit welchem die Lösung des Bankenstreits vom Parlament gebilligt werden sollte, und ihrer Forderung nach mehr Details aus dem Programm der USA sei nicht angebracht. Das Programm richte sich schliesslich an Banken, «die sich möglicherweise strafbar gemacht haben», die amerikanisches Recht verletzt hätten, sagte Thür. «Die Banken sind frei, sich diesem Programm anzuschliessen oder nicht», sagte er. Der Vorschlag beinhalte keine Verpflichtung. 

Quelle: Tages-Anzeiger Online 2.6.13

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Samstag, 1. Juni 2013

Umarmung der Welt auf die alte Art

Die Hauptausstellung der 55. Kunstbiennale von Venedig, die an diesem Wochenende eröffnet wird, versteht sich als Enzyklopädie, als Wunderkammer, als temporäres Weltmuseum – und setzt dabei weitgehend auf die Kunst als Objekt.
Die einzige wahrhaft enzyklopädische Geste ist im Grunde die des Papstes. Wenn der Vater aller Väter an das grosse Fenster über dem Markusplatz tritt, an sein Fenster zur Welt, vom hellen Tageslicht leicht geblendet die Augen ein wenig zusammendrückt und mit einem kleinen Lächeln weit die Arme ausbreitet, dann stellt er eine Art Trichter für alles Wissen und alle Werte, das Schwierige und das Schöne, alle Erkenntnisse und Erfindungen des Universums dar. Kein Wunder, schwankt er im ersten Moment ein wenig zurück, wenn all dies mit voller Wucht bei ihm einschlägt. Die Geste der ausgebreiteten Arme selbst macht aus dem Papst ein aufgeschlagenes Buch, eine Enzyklopädie des Weltbestandes.
Die 55. Biennale von Venedig, die an diesem Wochenende feierlich eröffnet wird, baut sich als ein «Palazzo Enciclopedico» vor dem Besucher auf – Grund genug, die päpstliche Geste auch selbst einmal auszuprobieren. Stellen wir uns also an das weit geöffnete Fenster unseres Hotels und breiten die Arme aus. Da wir, wie die meisten Enzyklopädien der letzten zweihundert Jahre, alphabetisch organisiert sind, trifft als erstes Lemma Auriti, Marino bei uns ein. Dieser italoamerikanische Künstler liess am 16. November 1955 seine Idee eines «Encyclopedic Palace» patentieren. Er wollte alles Wissen und alle Erfindungen dieser Welt («vom Rad bis zum Satelliten») in einem 136 Stockwerke hohen Wolkenkratzer zusammenbringen. So eifrig Auriti sein Ziel verfolgte – zur Realisierung kam es nicht. Das Modell aus seiner Garage in Pennsylvania aber bildet nun den Auftakt der Hauptausstellung im Arsenale – und Auritis Wunsch nach einer grossen Weltumarmung liefert dem ebenfalls italoamerikanischen Kurator Massimiliano Gioni einen US-patentierten Vorwand für das Thema seiner Biennale.


Eine Kunstausstellung als Enzyklopädie – da ist eine gewisse Beliebigkeit vorauszusehen. Allerdings hätte Gioni das Lasso ja auch beliebig anziehen können. Doch das hat er nicht getan – im Gegenteil: Zwischen Arbeiten, die man in diesem Kontext durchaus versteht, tauchen immer wieder Beiträge auf, bei denen man beide Augen fest zudrücken muss, um den Bezug zum Thema noch zu sehen. Paweł Althamer zum Beispiel hat im Arsenale einen riesigen Saal mit seinen «Venetians» bevölkert. Lebensgrosse Plastiken, die Köpfe sind Abgüsse von Gesichtern einiger Lagunen-Bewohner, die Leiber quasi in die dritte Dimension übersetzte Strichmännchen-Körper mit groben Bandagen – alles aus Stahl und Plastic, in Müllsack-Grau. Die Arbeit erinnert ein wenig an Gunther von Hagens «Körperwelten», gehört aber sicher zu den bildwirksamsten Werken der internationalen Ausstellung und ehrt überdies die Bewohner der Stadt – doch wenn wir das Biennale-Motto darin finden wollen, dann müssen wir schon Dinge formulieren wie: «Jedes Gesicht ist die Enzyklopädie eines ganzen Lebens.» Althamer selbst sagt dazu nur: «It's a major achievement to realize, that the body is only a vehicle for the soul.»


Das ist eine Formel, wie sie auch das Christentum immer wieder hervorgebracht hat. Dessen enzyklopädischer Anspruch steht ausser Frage – und also erstaunt es kaum, dass es im Rahmen dieser Biennale auf ganz unterschiedliche Weise eine Rolle spielt: Der Bogen reicht vom «Genesis»-Comic eines Robert Crumb über die Zeichnungen von erleuchteten Mitgliedern der Shaker-Kirche bis zu den fein ziselierten Ikonen des ehemaligen Minenarbeiters und visionären Autodidakten Augustin Lesage.


Überhaupt spielt Dilettantenkunst eine wichtige Rolle auf dieser Biennale. Etwa ein Drittel der 150 Künstler sind «Outsider» – manche der Gesellschaft, andere nur des Kunstbetriebs. Auch darin zeigt sich, dass Gionis Weg immer wieder die Spuren von Harald Szeemann kreuzt, dessen Grossausstellungen ja auch oft und mit nonchalanter Selbstverständlichkeit einen enzyklopädischen Anspruch hatten – nicht zuletzt auch das «Plateau der Menschheit», auf dem die Besucher seiner Biennale von 2001 zu tanzen hatten.
Im Unterschied zu Szeemann allerdings, der sich immer wieder bemühte, die unterschiedlichsten Kunstwerke in eine grosse, wenn auch nur selten ganz nachvollziehbare Erzählung zu verpacken, verzichtet Gioni darauf, irgendein narratives Zelt über seine Ausstellung zu spannen, in dessen Schatten eine Zusammengehörigkeit der Dinge und Diskurse sichtbar werden könnte.
Zu den grossen Fehlstellen im enzyklopädischen Gewebe dieser Biennale gehören auch alle negativen Aspekte des Themas. Alles Enzyklopädische erscheint hier ohne Ausnahme als etwas Positives, allenfalls etwas reizend Verschrobenes. Aber sind zum Beispiel nicht auch fast alle Diktaturen mit einem enzyklopädischen Anspruch aufgetreten? Ja ist es nicht auch so, dass im Grunde keine Enzyklopädie ohne ein bestimmtes Mass an autoritärer Gestik auskommt? Wer eine Enzyklopädie schafft, der beansprucht damit automatisch auch eine gewisse Interpretationshoheit – das gilt wahrscheinlich sogar für ganz individuelle Enzyklopädien.


Etwa solche, deren Entstehung sich einem heftigen Gebastel verdankt. Davon gibt es in Venedig viel zu sehen, ist die Bricolage auf dieser Biennale doch eindeutig die Königsdisziplin. Am einen Ende des Bastelbogens stehen die matten, im Grunde einfach nur zu gross geratenen Collagen eines Albert Oehlen – am anderen Ende die teilweise meterdicken Künstlerbücher des Japaners Shinro Ohtake, deren Entstehung sich wohl einer ähnlichen Obsession verdankt wie die zahllosen Modelle imaginierter – und dabei doch sehr gewöhnlicher – Architekturen, die ein österreichischer Versicherungsbeamter namens Peter Fritz in dem 1950er und 1960er Jahren zusammengeleimt hat. Ausgebuddelt haben diesen seltsamen Schatz die Künstler Oliver Croy und Oliver Elser.


Solchen Momenten zum Trotz kommt uns das Generalthema mit jedem Schritt durch die Ausstellung weniger scharf umrissen vor. Allerdings kann es auch sein, dass uns im Moment nur die falschen Lemmata zufliegen. Konzentrieren wir uns also, breiten wir die Arme noch etwas weiter aus, schliessen wir die Augen. Ganz tief und ruhig geht unser Atem, ein und aus, ein und aus.


Man könnte erwarten, dass das Internet ein zentrales Thema dieser Biennale darstellt – ist es doch auf seine Weise wohl im Moment überhaupt der «Palazzo Enciclopedico» schlechthin. Eine Tatsache, die ja auch Künstler auf vielfältige Weise beschäftigt. Gioni aber lässt das Internet aus, sicher bewusst, geht es ihm doch um eine materielle Kultur, wie sie etwa die Bronzeskulptur (Hans Josephsohn ist ein ganzer Saal gewidmet) oder das Künstlerbuch verkörpern, das auf dieser Biennale in allen möglichen Formen eine Rolle spielt (siehe «Bastelei»). Will Gioni uns also vermitteln, dass wir im postdigitalen Zeitalter angelangt sind? Oder nur, dass wir uns auf das Materielle besinnen sollen? Im Zusammenhang mit dem in den sechziger Jahren konzipierten (und für die Biennale in den Corderie neu konstruierten) «Movie-Drome» von Stan VanDerBeek, einer aus zahllosen Projektionen und Tonspuren zusammengesetzten Kakofonie, wird allerdings die Behauptung aufgestellt, das Projekt sei «a kind of visual prototype of the Internet». Wie konnten wir das vergessen: die böse digitale Bilderflut!


Die Gefahr einer Überreizung durch die schiere Zahl der Bilder ist beim «Roten Buch» von Jung, Carl Gustav natürlich eher gering. Das berühmte Werk, das mit seinen kostbaren Malereien und seiner eckigen Kalligrafie auf den ersten Blick an eine mittelalterliche Handschrift erinnert, stellt Auftakt und Zentrum des Ausstellungsteils im Padiglione d'Italia dar. Basis dieses eindrücklichen Werks sind Träume oder auch eher Visionen und ihre Deutung mit Mitteln der Sprache und einer akribischen Miniaturmalerei. Zweifellos war das Buch, an dem C. G. Jung sechzehn Jahre lang gearbeitet hat, von zentraler Bedeutung für die Entwicklung seiner Thesen. Ohne jede Transkription und ohne Erklärungen allerdings ist das «Red Book» hier lediglich ein Symbol für Jungs Gedankenwelt.


Leichter zugänglich ist uns da natürlich Kitsch. Den bietet Ragnar Kijartansson – allerdings auf höchstem Niveau: Im Hafen vor dem Arsenale hat er professionelle Blasmusiker im Frack auf ein umgebautes isländisches Fischerboot mit Rahsegel gesetzt, das ständig zwischen zwei Anlegestellen hin und her gondelt. Dabei bleibt jeweils ein Bläser auf dem Ponton zurück, um mit den Kollegen einen wehmütigen Abschieds-Dialog zu blasen. Zum Heulen schön.


Bei aller Verwunderung über diese Biennale, bei der die Kunst als Objekt eine so zentrale Bedeutung einnimmt, muss man ihr eines lassen: Langweile kommt nur selten auf. Der Kurator hat ein gutes Gespür für Rhythmus, die Mischung aus verschiedenen Medien ist sehr abwechslungsreich, und die ersten Säle im Arsenale sind auch inhaltlich so durchgestaltet, dass es eine Freude ist. Ausserdem hat Gioni viel Sinn für erfrischende Kombinationen. Der Mittelraum des Padiglione d'Italia etwa ist mit den Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner vollgehängt – wahrlich eine Enzyklopädie mit einem schweren Puls. Im Raum darüber aber das pure Gegenteil: «Plötzlich diese Übersicht» von Peter Fischli und David Weiss – die wunderbar leichte und lakonische Erkenntnis, dass man den Dingen letztlich unterlegen ist und trotzdem versuchen kann, sie in Ordnung zu bringen.
Das Gegenteil von Übersicht herrscht natürlich im Bauch der Mutter – der ersten Enzyklopädie, mit der wir im Leben zu schaffen haben. Und im Fall von Achilles G. Rizzoli auch der einzigen. Der Architekturzeichner lebte zeitlebens bei seiner Mama. Nach getaner Arbeit setze er sich am Abend hin, um aus der Phantasie heraus mächtige Gebäude zu zeichnen, die er als «Transfigurationen» seines Bekanntenkreises verstand. Das erste und mit Abstand grösste Blatt von 1935 heisst: «Mother Symbolically Represented / The Kathedral».
Doch wer heftig strampelt, schafft es irgendwann aus dem mütterlichen Bauchuniversum raus – vielleicht nur, um dann selbst Kinder zu machen, oder wenigstens Puppen, wie der amerikanische Morton Bartlett, eine der zahlreichen nicht ganz rezenten Neuentdeckungen dieser Biennale.
Wir müssen kurz eingenickt sein, jedenfalls sind von den Einträgen zu Okkultismus, Plastik, Quatsch, Reiz, Systematik, Turnen und Universalismus keine Spuren in uns hängengeblieben. Doch nun haben wir die Arme wieder oben, und es steht das Lemma Verkehrsmittel an. Das ist das Stichwort der Schweiz, hat Valentin Carron doch einen altehrwürdigen «Piaggio»-Töff in den Pavillon unseres Landes gestellt, zusammen mit ein paar zerquetschten Blasinstrumenten und Malereien, die an Klubtischchen aus den sechziger Jahren erinnern.


Ausserdem treffen wir hier auf eine hinreissende Schlange aus Metall, die sich wie das Geleise einer Modelleisenbahn durch sämtliche Räume des Pavillons schlingt – ihr eines Kopfende hängt frech über die Mauer, derweilen das andere den Besucher auf Augenhöhe empfängt. Man mag die Malereien und das Moped nicht so recht verstehen, und vielleicht wären sie auch gar nicht notwendig gewesen, von der Schlange aber lassen wir uns gerne umarmen.
Die Wunderkammer, die im Ausstellungsdiskurs immer wieder bemüht wird, scheint uns eher eine Formel dafür zu sein, dass hier sehr verschiedene Dinge ohne Vermittlung nebeneinander gezeigt werden. Denn Anlass zu Verwunderung gibt es hier nicht mehr als in jeder anderen Ausstellung auch – zumal einiges ja auch schon oft zu sehen war, denn überspannte Originalität kann man dieser Schau wahrlich nicht vorwerfen.
Arbeiten mit X-Rating gibt es kaum auf dieser Biennale. Einzig die eindeutig zweideutigen «Strumpf»-Skulpturen von Sarah Lucas, die in einem kleinen Seitenhof des Padiglione d'Italia golden glänzen, könnte man unter diesem Stichwort führen. Und sie würden sich ganz bestimmt auch gut machen auf dem Titelblatt einer «Enzyklopädie des schlechten Geschmacks».
Immer noch stehen wir mit weit gespreizten Armen da und spüren, wie die Welt sich in uns enzyklopädisch ordnet – nur zum Buchstaben Y will uns bloss die Behauptung erreichen, dass jeder Biennale-Besuch auch ein Yo-Yo-Test ist.
Kommen wir also zur Zusammenfassung: Diese 55. Biennale kam uns auf eine freundliche Art etwas altmodisch vor – dazu passen auch die vielen leicht esoterisch angehauchten Arbeiten. Die Schau nimmt das Thema Enzyklopädie nicht allzu ernst – im Gegenzug hat sie einen guten Rhythmus und dann und wann auch einen gewissen Witz. Insgesamt ist die Biennale, wie immer, das, was man aus ihr macht – nimmt man noch die ganzen Kunst-Luxus-Boutiquen dazu, als die sich die Länderpavillons mehrheitlich präsentieren, lohnt sich der Besuch in Venedig auf jeden Fall. Also lassen wir die Arme langsam wieder sinken und ziehen uns fröstelnd in unser Zimmer zurück – denn die Tage an der Lagune sind immer noch kühl, und wir haben vergessen, beim Buchstaben H die Heizung einzubauen.

Quelle: NZZ 1.6.13

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