Die Hauptausstellung der 55. Kunstbiennale von Venedig, die an
diesem Wochenende eröffnet wird, versteht sich als Enzyklopädie, als
Wunderkammer, als temporäres Weltmuseum – und setzt dabei weitgehend auf
die Kunst als Objekt.
Die
einzige wahrhaft enzyklopädische Geste ist im Grunde die des Papstes.
Wenn der Vater aller Väter an das grosse Fenster über dem Markusplatz
tritt, an sein Fenster zur Welt, vom hellen Tageslicht leicht geblendet
die Augen ein wenig zusammendrückt und mit einem kleinen Lächeln weit
die Arme ausbreitet, dann stellt er eine Art Trichter für alles Wissen
und alle Werte, das Schwierige und das Schöne, alle Erkenntnisse und
Erfindungen des Universums dar. Kein Wunder, schwankt er im ersten
Moment ein wenig zurück, wenn all dies mit voller Wucht bei ihm
einschlägt. Die Geste der ausgebreiteten Arme selbst macht aus dem Papst
ein aufgeschlagenes Buch, eine Enzyklopädie des Weltbestandes.
Die
55. Biennale von Venedig, die an diesem Wochenende feierlich eröffnet
wird, baut sich als ein «Palazzo Enciclopedico» vor dem Besucher auf –
Grund genug, die päpstliche Geste auch selbst einmal auszuprobieren.
Stellen wir uns also an das weit geöffnete Fenster unseres Hotels und
breiten die Arme aus. Da wir, wie die meisten Enzyklopädien der letzten
zweihundert Jahre, alphabetisch organisiert sind, trifft als erstes
Lemma Auriti, Marino bei uns ein. Dieser italoamerikanische
Künstler liess am 16. November 1955 seine Idee eines «Encyclopedic
Palace» patentieren. Er wollte alles Wissen und alle Erfindungen dieser
Welt («vom Rad bis zum Satelliten») in einem 136 Stockwerke hohen
Wolkenkratzer zusammenbringen. So eifrig Auriti sein Ziel verfolgte –
zur Realisierung kam es nicht. Das Modell aus seiner Garage in
Pennsylvania aber bildet nun den Auftakt der Hauptausstellung im
Arsenale – und Auritis Wunsch nach einer grossen Weltumarmung liefert
dem ebenfalls italoamerikanischen Kurator Massimiliano Gioni einen
US-patentierten Vorwand für das Thema seiner Biennale.
Eine Kunstausstellung als Enzyklopädie – da ist eine gewisse Beliebigkeit
vorauszusehen. Allerdings hätte Gioni das Lasso ja auch beliebig
anziehen können. Doch das hat er nicht getan – im Gegenteil: Zwischen
Arbeiten, die man in diesem Kontext durchaus versteht, tauchen immer
wieder Beiträge auf, bei denen man beide Augen fest zudrücken muss, um
den Bezug zum Thema noch zu sehen. Paweł Althamer zum Beispiel hat im
Arsenale einen riesigen Saal mit seinen «Venetians» bevölkert.
Lebensgrosse Plastiken, die Köpfe sind Abgüsse von Gesichtern einiger
Lagunen-Bewohner, die Leiber quasi in die dritte Dimension übersetzte
Strichmännchen-Körper mit groben Bandagen – alles aus Stahl und Plastic,
in Müllsack-Grau. Die Arbeit erinnert ein wenig an Gunther von Hagens
«Körperwelten», gehört aber sicher zu den bildwirksamsten Werken der
internationalen Ausstellung und ehrt überdies die Bewohner der Stadt –
doch wenn wir das Biennale-Motto darin finden wollen, dann müssen wir
schon Dinge formulieren wie: «Jedes Gesicht ist die Enzyklopädie eines
ganzen Lebens.» Althamer selbst sagt dazu nur: «It's a major achievement
to realize, that the body is only a vehicle for the soul.»
Das ist eine Formel, wie sie auch das Christentum immer
wieder hervorgebracht hat. Dessen enzyklopädischer Anspruch steht
ausser Frage – und also erstaunt es kaum, dass es im Rahmen dieser
Biennale auf ganz unterschiedliche Weise eine Rolle spielt: Der Bogen
reicht vom «Genesis»-Comic eines Robert Crumb über die Zeichnungen von
erleuchteten Mitgliedern der Shaker-Kirche bis zu den fein ziselierten
Ikonen des ehemaligen Minenarbeiters und visionären Autodidakten
Augustin Lesage.
Überhaupt spielt Dilettantenkunst eine
wichtige Rolle auf dieser Biennale. Etwa ein Drittel der 150 Künstler
sind «Outsider» – manche der Gesellschaft, andere nur des Kunstbetriebs.
Auch darin zeigt sich, dass Gionis Weg immer wieder die Spuren von
Harald Szeemann kreuzt, dessen Grossausstellungen ja auch oft und mit
nonchalanter Selbstverständlichkeit einen enzyklopädischen Anspruch
hatten – nicht zuletzt auch das «Plateau der Menschheit», auf dem die
Besucher seiner Biennale von 2001 zu tanzen hatten. Im Unterschied
zu Szeemann allerdings, der sich immer wieder bemühte, die
unterschiedlichsten Kunstwerke in eine grosse, wenn auch nur selten ganz
nachvollziehbare Erzählung zu verpacken, verzichtet Gioni
darauf, irgendein narratives Zelt über seine Ausstellung zu spannen, in
dessen Schatten eine Zusammengehörigkeit der Dinge und Diskurse sichtbar
werden könnte. Zu den grossen Fehlstellen im
enzyklopädischen Gewebe dieser Biennale gehören auch alle negativen
Aspekte des Themas. Alles Enzyklopädische erscheint hier ohne Ausnahme
als etwas Positives, allenfalls etwas reizend Verschrobenes. Aber sind
zum Beispiel nicht auch fast alle Diktaturen mit einem enzyklopädischen
Anspruch aufgetreten? Ja ist es nicht auch so, dass im Grunde keine
Enzyklopädie ohne ein bestimmtes Mass an autoritärer Gestik auskommt?
Wer eine Enzyklopädie schafft, der beansprucht damit automatisch auch
eine gewisse Interpretationshoheit – das gilt wahrscheinlich sogar für
ganz individuelle Enzyklopädien.
Etwa solche, deren Entstehung sich einem heftigen Gebastel verdankt.
Davon gibt es in Venedig viel zu sehen, ist die Bricolage auf dieser
Biennale doch eindeutig die Königsdisziplin. Am einen Ende des
Bastelbogens stehen die matten, im Grunde einfach nur zu gross geratenen
Collagen eines Albert Oehlen – am anderen Ende die teilweise
meterdicken Künstlerbücher des Japaners Shinro Ohtake, deren Entstehung
sich wohl einer ähnlichen Obsession verdankt wie die zahllosen Modelle
imaginierter – und dabei doch sehr gewöhnlicher – Architekturen, die ein
österreichischer Versicherungsbeamter namens Peter Fritz in dem 1950er
und 1960er Jahren zusammengeleimt hat. Ausgebuddelt haben diesen
seltsamen Schatz die Künstler Oliver Croy und Oliver Elser.
Solchen
Momenten zum Trotz kommt uns das Generalthema mit jedem Schritt durch
die Ausstellung weniger scharf umrissen vor. Allerdings kann es auch
sein, dass uns im Moment nur die falschen Lemmata zufliegen.
Konzentrieren wir uns also, breiten wir die Arme noch etwas weiter aus,
schliessen wir die Augen. Ganz tief und ruhig geht unser Atem, ein und
aus, ein und aus.
Man könnte erwarten, dass das Internet ein
zentrales Thema dieser Biennale darstellt – ist es doch auf seine Weise
wohl im Moment überhaupt der «Palazzo Enciclopedico» schlechthin. Eine
Tatsache, die ja auch Künstler auf vielfältige Weise beschäftigt. Gioni
aber lässt das Internet aus, sicher bewusst, geht es ihm doch um eine
materielle Kultur, wie sie etwa die Bronzeskulptur (Hans Josephsohn ist
ein ganzer Saal gewidmet) oder das Künstlerbuch verkörpern, das auf
dieser Biennale in allen möglichen Formen eine Rolle spielt (siehe
«Bastelei»). Will Gioni uns also vermitteln, dass wir im postdigitalen
Zeitalter angelangt sind? Oder nur, dass wir uns auf das Materielle
besinnen sollen? Im Zusammenhang mit dem in den sechziger Jahren
konzipierten (und für die Biennale in den Corderie neu konstruierten)
«Movie-Drome» von Stan VanDerBeek, einer aus zahllosen Projektionen und
Tonspuren zusammengesetzten Kakofonie, wird allerdings die Behauptung
aufgestellt, das Projekt sei «a kind of visual prototype of the
Internet». Wie konnten wir das vergessen: die böse digitale Bilderflut!
Die Gefahr einer Überreizung durch die schiere Zahl der Bilder ist beim «Roten Buch» von Jung, Carl Gustav natürlich
eher gering. Das berühmte Werk, das mit seinen kostbaren Malereien und
seiner eckigen Kalligrafie auf den ersten Blick an eine mittelalterliche
Handschrift erinnert, stellt Auftakt und Zentrum des Ausstellungsteils
im Padiglione d'Italia dar. Basis dieses eindrücklichen Werks sind
Träume oder auch eher Visionen und ihre Deutung mit Mitteln der Sprache
und einer akribischen Miniaturmalerei. Zweifellos war das Buch, an dem
C. G. Jung sechzehn Jahre lang gearbeitet hat, von zentraler Bedeutung
für die Entwicklung seiner Thesen. Ohne jede Transkription und ohne
Erklärungen allerdings ist das «Red Book» hier lediglich ein Symbol für
Jungs Gedankenwelt.
Leichter zugänglich ist uns da natürlich Kitsch.
Den bietet Ragnar Kijartansson – allerdings auf höchstem Niveau: Im
Hafen vor dem Arsenale hat er professionelle Blasmusiker im Frack auf
ein umgebautes isländisches Fischerboot mit Rahsegel gesetzt, das
ständig zwischen zwei Anlegestellen hin und her gondelt. Dabei bleibt
jeweils ein Bläser auf dem Ponton zurück, um mit den Kollegen einen
wehmütigen Abschieds-Dialog zu blasen. Zum Heulen schön.
Bei
aller Verwunderung über diese Biennale, bei der die Kunst als Objekt
eine so zentrale Bedeutung einnimmt, muss man ihr eines lassen: Langweile kommt
nur selten auf. Der Kurator hat ein gutes Gespür für Rhythmus, die
Mischung aus verschiedenen Medien ist sehr abwechslungsreich, und die
ersten Säle im Arsenale sind auch inhaltlich so durchgestaltet, dass es
eine Freude ist. Ausserdem hat Gioni viel Sinn für erfrischende
Kombinationen. Der Mittelraum des Padiglione d'Italia etwa ist mit den
Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner vollgehängt – wahrlich eine
Enzyklopädie mit einem schweren Puls. Im Raum darüber aber das pure
Gegenteil: «Plötzlich diese Übersicht» von Peter Fischli und David Weiss
– die wunderbar leichte und lakonische Erkenntnis, dass man den Dingen
letztlich unterlegen ist und trotzdem versuchen kann, sie in Ordnung zu
bringen. Das Gegenteil von Übersicht herrscht natürlich im Bauch der Mutter –
der ersten Enzyklopädie, mit der wir im Leben zu schaffen haben. Und im
Fall von Achilles G. Rizzoli auch der einzigen. Der Architekturzeichner
lebte zeitlebens bei seiner Mama. Nach getaner Arbeit setze er sich am
Abend hin, um aus der Phantasie heraus mächtige Gebäude zu zeichnen, die
er als «Transfigurationen» seines Bekanntenkreises verstand. Das erste
und mit Abstand grösste Blatt von 1935 heisst: «Mother Symbolically
Represented / The Kathedral». Doch wer heftig strampelt, schafft
es irgendwann aus dem mütterlichen Bauchuniversum raus – vielleicht nur,
um dann selbst Kinder zu machen, oder wenigstens Puppen, wie der
amerikanische Morton Bartlett, eine der zahlreichen nicht ganz rezenten Neuentdeckungen dieser Biennale. Wir müssen kurz eingenickt sein, jedenfalls sind von den Einträgen zu Okkultismus, Plastik, Quatsch, Reiz, Systematik, Turnen und Universalismus keine Spuren in uns hängengeblieben. Doch nun haben wir die Arme wieder oben, und es steht das Lemma Verkehrsmittel an.
Das ist das Stichwort der Schweiz, hat Valentin Carron doch einen
altehrwürdigen «Piaggio»-Töff in den Pavillon unseres Landes gestellt,
zusammen mit ein paar zerquetschten Blasinstrumenten und Malereien, die
an Klubtischchen aus den sechziger Jahren erinnern.
Ausserdem
treffen wir hier auf eine hinreissende Schlange aus Metall, die sich
wie das Geleise einer Modelleisenbahn durch sämtliche Räume des
Pavillons schlingt – ihr eines Kopfende hängt frech über die Mauer,
derweilen das andere den Besucher auf Augenhöhe empfängt. Man mag die
Malereien und das Moped nicht so recht verstehen, und vielleicht wären
sie auch gar nicht notwendig gewesen, von der Schlange aber lassen wir
uns gerne umarmen. Die Wunderkammer, die im
Ausstellungsdiskurs immer wieder bemüht wird, scheint uns eher eine
Formel dafür zu sein, dass hier sehr verschiedene Dinge ohne Vermittlung
nebeneinander gezeigt werden. Denn Anlass zu Verwunderung gibt es hier
nicht mehr als in jeder anderen Ausstellung auch – zumal einiges ja auch
schon oft zu sehen war, denn überspannte Originalität kann man dieser
Schau wahrlich nicht vorwerfen. Arbeiten mit X-Rating
gibt es kaum auf dieser Biennale. Einzig die eindeutig zweideutigen
«Strumpf»-Skulpturen von Sarah Lucas, die in einem kleinen Seitenhof des
Padiglione d'Italia golden glänzen, könnte man unter diesem Stichwort
führen. Und sie würden sich ganz bestimmt auch gut machen auf dem
Titelblatt einer «Enzyklopädie des schlechten Geschmacks». Immer
noch stehen wir mit weit gespreizten Armen da und spüren, wie die Welt
sich in uns enzyklopädisch ordnet – nur zum Buchstaben Y will uns bloss
die Behauptung erreichen, dass jeder Biennale-Besuch auch ein Yo-Yo-Test ist. Kommen wir also zur Zusammenfassung:
Diese 55. Biennale kam uns auf eine freundliche Art etwas altmodisch
vor – dazu passen auch die vielen leicht esoterisch angehauchten
Arbeiten. Die Schau nimmt das Thema Enzyklopädie nicht allzu ernst – im
Gegenzug hat sie einen guten Rhythmus und dann und wann auch einen
gewissen Witz. Insgesamt ist die Biennale, wie immer, das, was man aus
ihr macht – nimmt man noch die ganzen Kunst-Luxus-Boutiquen dazu, als
die sich die Länderpavillons mehrheitlich präsentieren, lohnt sich der
Besuch in Venedig auf jeden Fall. Also lassen wir die Arme langsam
wieder sinken und ziehen uns fröstelnd in unser Zimmer zurück – denn die
Tage an der Lagune sind immer noch kühl, und wir haben vergessen, beim
Buchstaben H die Heizung einzubauen.
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